Viele mögen ja denken, so eine Pensionistin führt bestimmt ganz ein entspanntes Leben,

aber bei mir ist das Gegenteil der Fall und darüber habe ich einen Slam geschrieben

Heute – als ich aufwachte
Heute – als ich aufwachte – dachte ich mir wieder einmal
wie jeden Morgen – das ist fast egal
heute will ich meinen Tag sinnvoll gestalten
und dann dachte ich weiter, ich möchte heute das einhalten,
was ich mir immer wieder vornehme, nämlich
das Unbequeme, doch für mich das einzig Schöne
will schreiben, lass den Tag nicht länger verrinnen
will gleich beginnen, lasse ich meine Finger
über die Tasten meines Computers tanzen – und dann soll es ein Werk werden,
das ich akzeptieren kann – im Großen und Ganzen –
nein – ich merk‘s – im Ganzen muss ich spüren, dass ich es mag
das, so dachte ich, als ich aufwachte,
das soll dieser Tag bringen und es muss mir gelingen,
dass ich mich nicht – wie so oft – mit einem Buch begnüge und mir dabei vorlüge,
dass auch Lesen gut ist und auch so wichtig
so richtig gemütlich die Beine aufs Sofa
mit ’nem Buch kann ich mich in der Geschichte verlieren –
nein – das ist halt nur wieder konsumieren
es scheint mir wie ein Fluch
oh diese Faulheit – wie schnell vergeht immer die Zeit!

Heute – als ich aufwachte, dachte ich noch weiter, nämlich,
ich muss den Tag einfach richtig nützen, richtig – das heißt
ich muss irgendwie meine Kinder stützen
und das ist auch fix in mir, ich muss ihnen irgendetwas abnehmen,
etwas, was sie beschwert, es begehrt meine unheimliche masochistische Seele,
dass ich mich mit ein bisschen Leiden quäle
und es soll mir niemand ankreiden, später einmal, das ist mein Wahn,
dass ich für sie – für meine Kinder – nicht genug getan hab
Also, muss ich mich bequemen, ein süßes Enkel zu mir nehmen,
so einen kleinen Wicht, den betrachte ich nicht als Pflicht – sondern ganz bewusst als Lust
Aber ich muss doch auch schauen, dass meine Kinder das Richtige tun,
vielleicht Ratschläge geben – mir schweben dann irgendwelche Dinge vor,
die sie machen sollen, doch meistens grollen sie mir dafür
Aber heute sage ich nicht solche Sachen – nur, dass alles gut ist und das wird ihnen Mut
machen

Aber natürlich soll der Tag auch was Spannendes bringen, ich will ins Kino gehen
und einen tollen Film sehen, will mit Freundinnen telefonieren und sie sollen mir sagen,
was sie denken und was sie machen und dann lachen wir vielleicht

Und dann dachte ich – als ich heute aufwachte – an meinen Mann
ich werde ihm heute alle meine Wünsche erzählen
und es darf ihn nicht quälen, wenn es nicht die seinen sind,
denn unsere Verbundenheit gibt kaum Gelegenheit,
sich ganz allein den Weg durchs Leben zu bahnen, ich kann schon ahnen
es gibt Streit – nein – heute keinen Streit
heute rede ich mit Engelszungen – zwar ist es mir noch nie gelungen,
nicht sofort zu explodieren,
aber heute muss ich’s probieren, muss es riskieren

Nein, dachte ich, als ich heute aufwachte, diesen Tag werde ich nicht
so dumm vertrödeln, darum fange ich gleich was Sinnvolles an,
aber was soll es sein? So viele Dinge strömen auf mich ein –
soll mich aufzuraffen und Ordnung schaffen, was essen und nicht vergessen,
dass ich spazieren gehen muss und mit nicht allzu viel Verdruss,
soll ich auch meine Turnübungen ausführen,
denn meine Arme verlieren an Kraft und meine Beine und mein Rücken auch
und mein Gesicht erschlafft und dann schau ich auf die Uhr,
wie kommt es nur, es ist schon wieder Zeit bald ins Bett zu huschen,
ich mach mich bereit und denke, was hab ich nur alles liegen lassen!
Eine to do-Liste wird‘ ich für morgen fabrizieren, die wird mich besser organisieren
morgen ist ja alles noch offen, ich kann auf morgen hoffen

(Karin Wrulich, Juni 23)

1 Kommentar
  1. Liebe Karin!

    Das ist ein großartiger Text.
    Und gleichzeitig ein Test, ob die Kommentarfunktion funktioniert.

    LG
    Dein
    Jan-Christof Scheibe

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